Kleines Gedächtnistraining – wie fit ist dein Kopf gerade?


Frage
02
/18
Der in die Jahre gekommene Mann zog mit einem zögerlichen Ruck an der Schnur und das leuchtend rote Gummiboot vor ihm auf dem Boden füllte sich fast ebenso zögerlich mit Luft. Ein fremdartig zischendes Geräusch erfüllte den Abend und ließ den Mann nervös an dem zerknitterten Foto in seinen Händen herumfummeln. Es war ein sehr altes Bild, vom vielen Zusammen- und Auseinanderfalten fast unkenntlich geworden, doch der Mann hätte es selbst dann noch gestochen scharf vor sich gesehen, wenn er die Augen geschlossen hätte. Dies waren die einzigen Dinge, die ihm von seiner Frau noch geblieben waren: Die Landschaftsfotografie eines Sees in Alaska, sein Rottweiler Jared und natürlich das rote Gummiboot. Dieses hatte sich inzwischen vollständig aufgepumpt und der Mann schreckte aus seinen wehmütigen Gedanken hoch. Alles war nun so weit. In all diesen langen, trostlosen Jahren seit dem Tod seiner Frau, während all jenen endlosen Stunden, als man den Mann wegen seines Traums ausgelacht hatte, war er in Gedanken stets bereits bei diesem Moment gewesen. So lange hatte er gezögert und gebangt und sich diesen Augenblick herbeigesehnt, da er endlich an der Küste stehen würde, mit seinem roten Gummiboot und seinem Rottweiler und seinem Foto. Doch nun, da er hier war, den Blick auf die Lichtreflexe der untergehenden Sonne auf den Wellenkämmen gerichtet, kamen die Erinnerungen an den vergangenen Tag wieder in ihm hoch und liessen diesen vollkommenen Augenblick in sich zusammenstürzen wie ein Kartenhaus. Am Samstag, dem Tag bevor der Mann beschlossen hatte, alles hinter sich zu lassen und den Bus zum Strand zu nehmen, war seine Nichte bei ihm zu Besuch gekommen. Nach einem raschen Klingeln war sie wie immer mit der Zielstrebigkeit und Zerstörungsgewalt einer Dampfwalze in seine Wohnung gerauscht und hatte sich, ohne sich allzu lange mit einer Begrüssung aufzuhalten, auf die Stapel dreckigen Geschirrs in der Küche gestürzt. Der Mann, um zwei Uhr nachmittags noch immer in Pyjama und Morgenmantel, hatte sich gegen den Kühlschrank gelehnt, vorbereitet auf den Schwall Fragen, welcher ihn nun erwarten würde. Und dieser war augenblicklich gefolgt: „Wie lange hast du eigentlich schon kein Geschirr mehr gespült? Wolltest du dir nicht mal einen Geschirrspüler zulegen? Und was ist mit den Einkäufen? Ist dein Kühlschrank gefüllt oder ernährst du dich wieder nur von Dosenfutter? Du weisst, ich kann nicht auch noch für dich einkaufen gehen! Ach übrigens, was sind das schon wieder für Mahnungen in deinem Briefkasten? Du bezahlst doch wohl deine Rechnungen? Und was die Tabletten angeht, die der Doktor dir verschrieben hat; die musst du auch wirklich einnehmen, weisst du?“ ... (leselupe.de Hobbydichter saperva)